Seit letzten Jahr gibt es im Zentrum Bodhicharya Deutschland in Berlin einen Kurs für Kinder zwischen acht und elf Jahren: „Gefühle verstehen. Innerlich stark sein  ☞  Emotionale Intelligenz für Kinder“. Tenzin Peljor und Dr. Josefine Raasch haben das Konzept entwickelt und erste Erfahrungen gesammelt.

Wie kam es zu der Idee, den Emotionsschulungskurs für Kinder zu entwickeln?

Josefine: Im Sommer 2010 unterhielten sich Tenzin und ich in Berlin darüber, dass uns auffällt, dass in buddhistischen Zentren tatsächlich selten Kinder und Jugendliche zu sehen sind. Tenzin studierte gerade am Istituto Lama Tzong Khapa in Italien und ich schrieb meine Doktorarbeit in Australien. Mein ganzes berufliches Leben habe ich mit und zu Kindern gearbeitet, intensiv in der Physiotherapie und Psychomotorik und auch in der Wissenschaft, als Erziehungswissenschaftlerin, Sozial- und Wissensanthropologin. Vor diesem Hintergrund sagte ich Tenzin zu, dass wenn ich aus Melbourne zurückkomme, ihm dabei helfe, einen Kurs für Kinder und Jugendliche anzubieten.

Tenzin: Ich fand es schade, dass es kaum Angebote für Kinder und Jugendliche gibt, die zu innerem Glück und Erfüllung führen, wie z.B. die Kultivierung geistiger Ruhe durch Konzentration, bzw. Achtsamkeit, warmherziger Freundlichkeit, Mitgefühl, Dankbarkeit, Zufriedenheit, Loslassen, Freude am Teilen usw. Kinder sind weniger konditioniert als Erwachsene. Daher sind sie offener, weniger festgefahren und Methoden zur Kultivierung von geistigen Qualitäten und zum besseren Umgang mit Emotionen fallen auf ein viel fruchtbareres Feld. Wenn sie früh mit diesen Methoden in Kontakt kämen, könnte ein tiefer Nutzen für sie entstehen. Manche Schwierigkeiten entstünden dann vielleicht erst gar nicht, weil sie auf stärkende Qualitäten zurückgreifen könnten und bereits früh gelernt hätten, mit Gefühlen wie Wut, Frust, Aufregung, Angst, Schmerz geschickt umzugehen sowie echtes Selbstvertrauen zu entwickeln.

Kinder: Lauf der Planeten

Josefine: 2014 lebte Tenzin wieder in Berlin und bot unter anderem einen Meditationskurs an. Ich war auch zurückgekommen und besuchte diesen Kurs. Während einer Pause kam eine Frau euphorisch auf Tenzin zu, ich saß neben den beiden. Sie war begeistert von dem Kurs und erzählte, wie viel ihr es bedeute, daran teilnehmen und hier sein zu können. Eines fehle ihr hier jedoch: ein Kurs für ihre 10-jährige Tochter. Tenzin sagte, trotz seiner theaterpädagogischen Ausbildung und einer Tätigkeit als Pädagoge, sei das Thema Meditation und Kinder eines, mit dem er sich noch nicht auseinandergesetzt habe. In dieser Situation war für mich klar: ‚Wir machen das!‘, und ich sagte zu ihm: „Ok, du hast umfangreiche Erfahrungen mit Meditationen und ich in der Arbeit mit Kindergruppen; lass uns das zusammen machen!“ Dann begannen wir, über das Kurskonzept nachzudenken. Das hatte dann eine ziemlich lange Laufzeit.

Tenzin: Wir müssen mit Kindern und Jugendlichen anders arbeiten als mit Erwachsenen. Dazu brauchten wir eine entsprechende Didaktik und einen theoretischen Hintergrund. Es ist ein sehr komplexes Gebiet und das mussten wir uns erstmal erschließen.

Josefine: ‚Meditation für Kinder‘ war unser Ausgangspunkt, aber wir wussten auch, dass man mit Kindern nicht so dasitzen und meditieren kann, das kann man höchstens 1-2 Minuten machen. Also mussten wir uns etwas Anderes einfallen lassen und so haben wir eine Weile gesucht.

Tenzin: Ich bin dann auf Artikel von Daniel Goleman gestoßen, in denen er fünf Punkte der emotionalen Intelligenz beschrieb und wir haben drei der fünf Punkte für uns als Kernthemen, als Säulenmodell rausgesucht: Emotionswahrnehmung, Emotionsregulation und soziale Kompetenz. Zunächst muss man sich selbst wahrnehmen. Dann muss man lernen, mit den Gefühlen umzugehen und bestimmte Emotionen, die nützlich sind, zu kultivieren, und dann kann man das Wissen und Verständnis auf andere übertragen und sozial weise und geschickt interagieren.

Dankfüllung

Josefine: Wir haben ein Jahr lang gelesen und überlegt, ein weiteres Jahr lang geplant und seit 2016 wenden wir das Konzept an. 2016 fanden die ersten beiden Kurse statt und jetzt findet gerade der dritte Kurs statt. Wir wollten keinen endlosen Kurs oder einen Jahreskurs entwickeln, weil das für Eltern schwer zu organisieren ist. Darum haben wir einen neun-Wochen Kurs entwickelt, ursprünglich mit je drei Einheiten á 90 Minuten zur Selbstwahrnehmung, zur Selbstregulation und eben auch zum sozialen Umgang mit anderen; daraus entstand der Kurs aus neun Einheiten. Diese Trennung der Themen haben wir wieder aufgehoben, weil sie einander bedingen und zusammen erarbeitet werden müssen.

Was erhofft Ihr Euch den Kindern vermitteln zu können? Inwieweit kommen buddhistische Perspektiven und Methoden zum Einsatz?

Tenzin: Uns ist es ganz wichtig, Emotionen nicht zu werten. Wir schauen uns an, wie sie wirken, sagen aber nicht: „Das ist gut.“, oder „Das ist schlecht.“ Alle Emotionen sind ok. Es geht darum zu verstehen: ‚ah, interessant, wie funktioniert das?‘ Wie in einem Labor experimentieren wir, erzeugen Gefühle, schauen uns an, wie das geht, schauen, was die Emotionen mit uns und anderen machen. Manche machen uns stark, andere schwächen uns. Wut kann sowohl schwach als auch stark machen.

Kinder Achtsamkeit Gefühle

Josefine: Auf diese Erfahrung bauend, setzten wir vier Schwerpunkte. Wir haben zum einen den Umgang mit den Emotionen die uns eher nicht so stark machen: Wie geht man z.B. mit Wut, Angst, Schmerz, Traurigkeit um? Was macht man, wenn man neidisch oder eifersüchtig ist? Wie fühlt sich das an? Wo fühlt man das? Was hat es für Wirkungen, sich so zu fühlen?

Tenzin: Es geht also um die Wirkung auf sich selbst, auf andere und die Rückkopplung, was kommt vom anderen auf einen zurück.

Josefine: Das ist der erste Schwerpunkt. Der zweite Schwerpunkt zielt auf das Vertraut werden und Einüben jener Gefühle, die uns stark machen. Wir haben z.B. die Übung des ‚Juwels‘, da werden ähnlich wie in der Metta Meditation freundliche Wünsche gesandt.

Kinder schmunzelnd beobachtend
Tenzin: In dieser Übung des ‚Juwels‘ senden wir Wohlwollen und empfangen es auch. D.h. wir erfahren das Gefühl der Liebe. Wir geben Liebe und empfangen Liebe. So trainieren wir den Muskel der warmherzigen Freundlichkeit, welcher uns selbst sowie auch unser Umfeld immer glücklich und stark macht.

Josefine: Wir haben die Übung der ‚Dankfüllung‘, bei der die Kinder Gründe für Dankbarkeit nennen und am Ende jeder Stunde für jeden Grund für Dankbarkeit eine Perle in ein Glas tun.

Tenzin: Da schauen wir: ‚Was habe ich, das mir gut tut?‘ Und dann versuchen wir zu verstehen: ‚Weil ich das habe, geht es mir gut und weil es mir guttut, kann ich dankbar dafür sein.‘ Diesem Gefühl geben wir in Form der ‚Dankfüllung‘ spielerisch in einer Art Ritual Ausdruck. Indem man das Gefühl bewusst aktiviert und wiederholt, trainiert man sozusagen diesen Muskel der Dankbarkeit, der Warmherzigkeit.

Josefine: Wir haben auch das Bennen von Stärken zur Übung gemacht. Was sind die einzelnen Stärken? Was kann eines der Kinder gut, was dem Kind oder anderen guttut?

Tenzin: Hier geht es darum, diese Qualitäten, die einem selbst und anderen guttun, wie Muskeln zu stärken.

Josefine: Mit dem Benennen der Stärken haben wir besonders gute Erfahrungen gemacht. Anfangs fiel es den Kindern schwer, eigene Stärken zu benennen. Wir haben dann in jeder Stunde weitere Stärken erfragt und am Ende waren die Kinder sehr erstaunt, welche tollen Qualitäten sie doch haben.

Das Konzentrieren auf Emotionen mit stärkenden Wirkungen ist also der zweite Schwerpunkt. Der dritte Schwerpunkt ist Körperarbeit. Hierbei lernen die Kinder, wo sie Gefühle im Körper wie wahrnehmen und auch, wie man mit ihnen umgehen kann. Die Kinder lernen hier auch Entspannungsmethoden kennen.

Wir haben beispielsweise die Schnellentspannung nach Jacobson adaptiert und eine Meditationsübung entwickelt, bei der die Kinder das Heben und Senken der Bauchdecke beobachten (den ‚Steinfahrstuhl‘). Manchmal nutzen wir auch die ‚Tiefkühlpizza‘, bei der die Kinder den Körper stark anspannen und dann ganz plötzlich und bewusst lockerlassen. Schließlich haben wir noch die ‚5/2/7-Atemübung‘ entwickelt: 5 Einheiten einatmen / 2 anhalten / 7 ausatmen.

»Uns ist es ganz wichtig, Emotionen nicht zu werten.«

Tenzin: Viele Kinder haben uns mitgeteilt, dass sie mit Stressempfindung zu kämpfen haben, deshalb behandeln wir das Thema Entspannung. Diese ist eine Fähigkeit und diese soll gefördert werden. Z.B. kann man sich nach zu viel Aufregung mit der 5/2/7-Atmung wieder runterbringen oder Kinder, die nachts nicht einschlafen können, haben die Möglichkeit, den ‚Steinfahrstuhl‘ zu praktizieren.

Josefine: Der Fokus auf den Körper ist also der dritte Schwerpunkt. Im zweiten Kurs haben wir noch zusätzlich eine Art ‚Labor‘ eingeführt, in dem wir uns anguckten, wie Gedanken Gefühle bewirken können. Das wäre dann der vierte Schwerpunkt. Wir wissen aber noch nicht, ob wir das in der jetzigen Gruppe anbieten. Das Thema ist etwas voraussetzungsreich.

Tenzin: Zwischen den Übungen halten wir immer wieder inne und reflektieren: „Wie fühlen wir uns jetzt gerade?“ Wir spüren in uns rein und versuchen, das Gefühl zu benennen. Und wenn ein Kind während der Stunde plötzlich einen intensiven Impuls erlebt, unterbrechen wir und sagen „Stopp! Was ist das jetzt für ein Gefühl?“ Das versuchen wir gemeinsam herauszufinden und auch, wie das Kind und auch wir damit umgehen können.

Bedeutet demnach „innerlich stark sein“ auch mal ganz schwach sein zu dürfen?

Josefine: Es geht darum zu erfahren, wie Gefühle auf einen selbst und auf andere wirken und wie man sinnvoller damit umgehen kann. Damit können Kinder auch durchaus schwach sein.

Tenzin: Das ist ein wichtiger Punkt, genau. Ein Grundprinzip wäre hier immer die Akzeptanz, dass alles was ist, in Ordnung und sogar spannend ist: ‚…das guck ich mir mal an und versuche ich zu verstehen‘. Wir nennen das den „Superdetektiv“. Mit diesem Superdetektiv, den wir im Kurs ‚aktivieren‘, wollen wir in den Kindern die Neugier erwecken, eigene Erfahrungen zu akzeptieren und achtsam wahrzunehmen.

Kinder & Gefühlskarten

Josefine: Und damit ist das Prinzip nicht nur Akzeptanz, sondern auch Introspektion, ein in sich reinschauen, in sich reinspüren, sich deutlicher wahrnehmen – und das sind zwei sehr konkrete buddhistische Konzepte.

Wir haben mit Geshe Ngawang Jangchub über das Konzept gesprochen. Das sei Dharma pur, sagte er. Auch Khenpo Chamtrul Rinpoche fand das Konzept gut. Er bekräftigte, der Schwerpunkt müsse auf der Erfahrung der Kinder liegen; nur drüber reden bringe nicht viel. Unser Kurskonzept zielt didaktisch also auf die Akzeptanz der Gefühle auf der einen Seite und die Introspektion auf der anderen und vermittelt Methoden, um klug mit Gefühlen umzugehen.

Tenzin: Offenheit, Akzeptanz, Annahme, nichts ist gut, nichts böse; alles was ist, ist Material, mit dem man arbeiten kann. Natürlich muss man ein bisschen regulieren, dass individuelle Themen nicht die Gruppendynamik zerstören – das ist unsere Aufgabe als Kursleiter.

»Wir würden uns richtig freuen, wenn sich mehr Leute für Kinder im Sinne von ›innerlich stärken‹ engagieren.«

Wie schätzt Ihr den aktuellen Anspruch und Druck der Gesellschaft auf unsere junge Generation ein? Gibt es Themen, welche die Kinder in den Kursen besonders häufig als Problem ansprechen?

Tenzin: Es ist uns schon aufgefallen, dass, wenn wir die Kinder fragten: „Welche Gefühle kennt ihr denn schon?“ und sie diese dann aufzählten, relativ schnell der Begriff „Stress“ kam. Es stellte sich heraus, dass alle Kinder in allen Kursen Stressgefühle kennen. Das war für mich ein Aha-Erlebnis. Das ist eine Realität, die ich aus meiner Kindheit nicht kenne. Stress ist offensichtlich eine gesellschaftliche Realität geworden und die adressieren wir natürlich im Kurs. Aber hier müsste man sich fragen, was passiert hier eigentlich auf gesellschaftlicher Ebene?

Ich habe von einem Gesellschaftskritiker gehört, der den Standpunkt vertritt, dass unsere Gesellschaft wahnsinnig komplex geworden sei und um die Komplexität der Gesellschaft als System zu erhalten, müssen wir noch komplexere Systeme erzeugen, die diese Komplexität managen, was zu einer unglaublichen Beschleunigung führt. Man wird sozusagen Sklave komplexer Systeme und muss sich selbst immer weiter ausbeuten und sich immer mehr erschöpfen.

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Und jetzt kommt in diese Dynamik die Achtsamkeit rein. Anstatt das System zu hinterfragen, werden nun Methoden genommen, um selbst ein bisschen runterzufahren, wieder zur Ruhe zu kommen, zu entspannen, damit man in diesem komplexen System noch verschachtelter arbeiten kann, um dann das komplexe System zu bedienen. Einerseits ist das Thema Achtsamkeit etwas Heilendes und Positives, was aber wahrscheinlich fortschrittlicher wäre, wäre das ganze System zu hinterfragen; zu fragen: „Brauchen wir das alles, um wirklich glücklich zu sein? Und ich beobachte bei Kindern, Jugendlichen, und auch an der Uni, dass alles ‚roboterhafter‘ wird, stromlinienförmiger. Es ist kaum noch Zeit für Selbstreflektion oder um die Gesellschaft kritisch zu reflektieren. Und in diesem Sinne ist die ganze Achtsamkeitsbewegung eigentlich eine Unterstützung des Systems. Positiv ist, dass viele junge Leute feststellen: ‚Hier stimmt fundamental etwas nicht für mich‘. In letzter Zeit habe ich häufiger von jungen Leuten mit abgeschlossener Ausbildung gehört, dass ihnen Lebensqualität wichtiger als Geld ist und sie daher nur noch in Teilzeit arbeiten und diesen beschleunigten Lebensrhythmus einfach nicht mitmachen wollen. Das freut mich sehr. Wir befinden uns in einer krankhaften Beschleunigung des Lebens und die Kinder kriegen das, finde ich, voll ab.

Josefine: Sehr viele Kinder leiden darunter und unser Kurs, und die wenigen anderen, die es zu diesem Thema gibt, können nur einem winzigen Teil davon helfen. Wir wissen noch nicht genau, wie wir weitermachen, aber wir wissen schon, dass es einen großen Bedarf gibt. Wir wurden von Leuten in anderen Städten nach Kursangeboten gefragt und von Leuten mit jüngeren oder älteren Kindern. Wir wurden auch von Kindern in unseren bisherigen Kursen gefragt, ob es denn einen „Fortgeschrittenenkurs“ gäbe.

Tenzin: Auch haben wir Anfragen, Erwachsene zu Kursleitern auszubilden.

Josefine: Und auch von Schulen. Soweit es uns möglich ist, gehen wir auch hin und stellen einige Übungen vor und haben dort auch mit größeren Gruppen sehr gute Erfahrungen gesammelt. Wir haben vor, ein Buch zur Grundidee und Methodik zu veröffentlichen und wünschen uns, dass es viel mehr Konzepte oder Veranstaltungen zu diesem Thema gibt.

Tenzin: …dass es mehr Leute gibt, die sich für das Wohl der Kinder engagieren, die kreative Angebote für Kinder machen, um ihnen zu helfen, bei sich zu sein, Frieden zu finden, für sich und für andere; Leute, die Kinder darin unterstützen für ihr Glück Verantwortung zu übernehmen, ihnen entsprechende Tools zu vermitteln, so dass sie glückliche Menschen sein können anstatt sie mit Anforderungen zu überstopfen und sie zu Zombies zu machen, die keinen Kontakt mehr mit sich haben und am Ende in Depression, Traurigkeit, Verzweiflung enden. Da ist also sehr viel zu tun und wir würden uns richtig freuen, wenn sich mehr Leute für Kinder im Sinne von „innerlich stärken“ engagieren.

Vielen Dank für dieses Gespräch!

Annette Faisst, Tanzpädagogin & Modedesignerin, führte das Interview, das gekürzt (PDF) in Tibet und Buddhismus Nr. 116 | Mai 2017 | S. 28–31 erschien.

Dr. Josefine Raasch, ist Sozialanthropologin, Erziehungswissenschaftlerin, Physiotherapeutin und Psychomotoriktherapeutin. (früher Ruhr-Universität Bochum)

Tenzin Peljor ist buddhistischer Mönch und Spiel- und Theaterpädagoge.